Yi Yi
Taiwan 2ooo, Regie: Edward Yang
Gelungener Film über die Entfremdung menschlicher Beziehungen
Edward Yangs Film handelt von einer durchschnittlichen Familie, die in Taiwans Hauptstadt Taipeh in der Gegenwart lebt. Das Leben dieser Familie, deren Beziehungen im wahrsten Sinn des Wortes alltäglich geworden sind, gerät aus den Fugen, als während der Hochzeit des Bruders der Mutter Min-Min (Elaine Jin) darüber gelästert wird, dass die Braut bereits hochschwanger ist. Die Gäste betrinken sich, und dann bekommt Min-Mins Mutter (Ru-Yun Tang) auch noch einen Schlaganfall und liegt im Koma. Dies schafft eine besondere Situation; denn die Ärzte empfehlen der Familie, die die Großmutter mit nach Hause nehmen, dringend möglichst oft mit ihr zu sprechen, um die Chance einer Wiederkehr des Bewusstseins zu erhöhen.
Das Alltägliche, an das sich alle über Jahre gewöhnt haben, wird hier zum Hindernis angesichts des drohenden Todes der Großmutter. Keines der Familienmitglieder, weder Vater N.J. (Nien-Jen Wu), noch Mutter Min-Min, noch Tochter Ting-Ting (Kelly Lee), noch der kleine Sohn der Familie sind in der Lage, eine emotionale Beziehung zu der im Koma liegenden Großmutter herzustellen. Die Familie gerät »außer sich«, das heißt jedes einzelne Familienmitglied spürt das Schmerzhafte der eingeschliffenen Entfremdung, in die sie alle geraten sind. Min-Min flüchtet anlässlich des Schicksals ihrer Mutter in einen Tempel, um in der Abgeschiedenheit zu meditieren.
Vater N.J., dessen Computerfirma vor erheblichen finanziellen Schwierigkeiten steht, wird beauftragt, mit dem Vertreter einer japanischen Firma über Kooperation zu verhandeln. N.J. merkt rasch, dass sein Verhandlungspartner nicht nur ein ehrlicher Mensch ist, der an wirklicher Kooperation und nicht an finanziellen Überrumpelungsversuchen – von welcher Seite auch immer – interessiert ist. Das kommt N.J. sehr entgegen, denn er wird sich bewusst, dass auch er Teil eines Systems ist, in dem Unehrlichkeit an der Spitze der Tugenden steht: seine Mitbesitzer der Computerfirma teilen ihm mit, er solle die Verhandlungen abbrechen; man habe einen lukrativeren Geschäftspartner gefunden. N.J. ist wütend und will aufhören.
Dazu kommt, dass er zufällig die Frau wieder trifft, die er 30 Jahre zuvor verlassen hat, und ihn immer noch zu lieben scheint. Auch N.J. liebt sie noch immer, will aber nicht zu ihr zurück. Denn die Gründe, warum er vor langer Zeit, ohne etwas zu sagen, von ihr weg gegangen ist, hindern ihn daran: Alle wollten damals, dass er studiert, Ingenieur wird, Karriere macht, auch seine Ex-Geliebte. »Doch was ich wollte, danach hat niemand gefragt.« Das war wohl unwichtig ...
Tochter Ting-Ting gibt sich die Schuld am Schlaganfall der Großmutter: Sie hatte vergessen, den Müll wegzubringen, und die geliebte Oma fand man ohnmächtig am Müllcontainer. Doch Ting-Ting hat noch andere Probleme. Sie ist in einen jungen Mann verliebt, der ihr, sobald emotionale Nähe zwischen beiden entsteht, entflieht. Dann wird er verhaftet, weil er jemanden getötet haben soll. Ting-Ting kommt nach Hause. Ihre Großmutter sitzt plötzlich auf einem Stuhl, lächelt, und hat einen Schmetterling aus Papier gefaltet. Ting-Ting legt ihren Kopf auf deren Schoß. Wenn sie die Augen schließe und in sich hinein schaue, dann sei alles ganz anders als in der Realität. Kurz darauf findet man die Großmutter tot im Bett. Ting-Ting, den Schmetterling in der Hand haltend, muss sich eingestehen, dass auch die im Stuhl sitzende Großmutter nur eine Wunschvorstellung war ...
Und dann ist da noch der kleine Sohn der Familie (Issey Ogata), ständig gehänselt von Mädchen aus seiner Schule. Er ist der einzige in der Familie, der sich auf seine – kindliche – Art und Weise mit der Problematik von Wunsch und Wirklichkeit intensiv auseinander zu setzen scheint – und gewahrwird, dass man in dieser Hinsicht sowohl scheitern, als auch Erfolg haben kann: Die Wasserbombe, die einem der Mädchen, die ihn ärgern, auf den Kopf fallen soll, trifft seinen Lehrer, der ihn nicht mag, der streng und ungerecht ist. Die Wasserbombe trifft den falschen und den richtigen zugleich. Andere seiner Wünsche dagegen werden wahr: Im Waschbecken übt er, wie lange er den Kopf unter Wasser halten kann. Dann geht er ins Schwimmbad, springt ins Becken und taucht, so lange er kann. Stolz (und völlig durchnässt) kommt er nach Hause und weiß nun, dass er länger tauchen kann als eines der großen Mädchen, die ihn ständig ärgern.
Doch Sohnemann hat noch ganz andere Ideen: Er fotografiert seine Familie, jeden von hinten. Man sieht auf seinen Fotos nur den Hinterkopf der Familienmitglieder. Als er seinem Onkel das Foto zeigt, das er von ihm gemacht hat, ist der natürlich völlig verwundert. Sohnemann erklärt ihm, nur er könne ihn wirklich von vorne sehen – und erkennen ...
Fazit
Edward Yangs Streifen konfrontiert den Zuschauer intensiv mit Situationen, in denen Menschen sich einer Realität gebeugt haben, die zugleich eine fremde, auferlegte, aber eben auch selbst auferlegte, verinnerlichte Wirklichkeit ist, und wie diese Realität die Wünsche, Hoffnungen, Bedürfnisse nach Nähe, sozialer Beziehung, Intimität einsperrt. Yang zeigt beispielsweise in einer Szene die Hochhäuser von Taipeh bei Nacht, das künstliche Licht der Büroräume, das nicht einmal strahlt, sondern einfach »ist«, und lässt dazu gefühlvolle klassische Musik spielen – ein Gegensatz, wie er krasser nicht sein könnte. Die Wirklichkeit, die zugleich von Menschen gemacht ist, doch sie umso härter gefangen hält, »wirkt«, während die Sehnsüchte nach einem nicht all-täglichen, alle Tage gleichen, entrückten, entleerten Leben an diesem Wirken kapitulieren müssen, es sei denn man stellt sie in Frage. Der Film ist sicherlich der Kategorie »ernsthafter Film« zuzuordnen; doch Yangs Streifen entbehrt deswegen keinesfalls des Humors.
© Ulrich Behrens 2002 – veröffentlicht zuerst in: www.ciao.com (unter dem Mitgliedsnamen Posdole)
Filmstart in Deutschland am 14. Juni 2oo2
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hinzugefügt: May 17th 2002 Autor: Ulrich Behrens Punkte:      zugehöriger Link: IMDb Hits: 7226 Sprache: deu
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